Wie kommen unsere Erdbeeren und Tomaten in deutsche Supermärkte? Das hat unsere Reporterin monatelang recherchiert – und dabei in Spanien und Marokko furchtbare Geschichten gehört. Ihre Reportage haben wir vergangene Woche veröffentlicht. Hier erzählt sie, wie schwierig die Arbeit daran war. Eine Kooperation mit CORRECTIV finanziert über crowdfunding.correctiv.org sowie durch die Volkart Stiftung.
Ich knie auf der Rückbank unseres Autos, vor mir die Kamera und dahinter Kalima. „Ich glaube, dass mein Vorgesetzter auch die anderen Frauen missbraucht, weil viele Probleme beim Laufen haben“, sagt sie. Wir haben einfach irgendwo angehalten, versuchen ein einigermaßen ordentliches Bild zu bekommen. Wir stehen auf dem Parkplatz der Universität im spanischen Huelva, auf halber Strecke zwischen den Erdbeerfarmen und dem Büro der Beauftragten für Gewalt gegen Frauen. Die meisten unserer Interviews für diese Recherche laufen so ab. Plötzlich und heftig, im Auto, auf Parkplätzen, Feldwegen.
„Wenn ich nicht tue, was er will, bringt er mich um”, sagt Kalima über Abdelrahman, den Vorgesetzten, der sie über Wochen vergewaltigt hat. „Es ist eine riesiges, abgelegenes Gelände. Er könnte mich einfach irgendwo vergraben. Niemanden würde das interessieren, niemand würde es herausfinden.“
Wir sind seit eineinhalb Monaten in Spanien und ich vermute, dass sie damit Recht hat. Wir haben mit einer Frau gesprochen, die wochenlang mit einem verletzten Bein in ihrem Zimmer auf einer Farm lag und nach der niemand geschaut hat. Mit Frauen, die dutzende Kilometer entfernt vom nächsten Ort, geschweige denn von der nächsten Polizeistation in Containern im Wald leben. Die trampen, um zum nächsten Supermarkt zu kommen und von spanischen Männern im Auto bedrängt werden. Und wir hören von einer Gruppe Arbeiterinnen, dass ihre Kollegin einfach verschwunden sei. Ohne ihren Pass mitzunehmen, ohne Geld. Eines Tages sei sie einfach nicht mehr da gewesen.
Vor mehr als einem Jahr haben meine Kollegin Stefania Prandi und ich angefangen, zu sexualisierter Gewalt gegen Erntehelferinnen zu recherchieren. Zwei Monate lang sind wir durch Spanien und Marokko gereist. Am Ende haben wir herausgefunden: Sexualisierte Gewalt gegen Erntehelferinnen ist weit verbreitet. Mutmaßliche Täter werden fast nie bestraft. Und lokale Gewerkschaften und die Polizei, aber auch die Behörden in Spanien tun nicht genug, um die Frauen zu schützen.
Diese Recherche war eine monatelange Kraft- und Geduldsprobe. Immer wieder habe ich an mir und an der Geschichte gezweifelt. Weil uns, vor allem in Spanien, so vehement gesagt wurde: Das ist kein Problem, das gibt es nicht. Bis wir mit den Frauen selbst gesprochen haben. Da habe ich gemerkt: Journalismus ist Handwerk, aber als Reporterin habe ich auch ein Bauchgefühl. Und gegen dieses Gefühl muss ich nicht ständig ankämpfen. In dieser Recherche hat es mich auf die richtige Spur gebracht – und dort gehalten.
Es ist der 3. Mai 2017, als Kalima uns anruft. Wir fahren mit ihr in ein Restaurant in Palos de la Frontera, wo sie niemand kennt, reden lange. Kalima erzählt, dass ihr Vorgesetzter sie missbraucht, dass er viele Frauen auf der Farm vergewaltigt hat. Dann geht sie mit unserer Übersetzerin auf die Toilette. Als die Übersetzerin wieder herauskommt, sieht sie geschockt aus. Kalima habe ihr eine Verletzung im Intimbereich gezeigt.
Wenig später sitzen wir im Auto auf dem Krankenhausparkplatz, drinnen wird Kalima gerade untersucht, mit dabei unsere Übersetzerin. Sie schickt uns eine Tonaufnahme über Whatsapp. Wir drücken auf Abspielen, dann klingen Kalimas Schreie durch das Auto. Kalima hat Schmerzen, als die Ärzte sie untersuchen. Nach 15 Sekunden ist es vorbei. Ich möchte hier nicht mehr sein, denke ich. Ich möchte das nicht hören.
Das einzige Mal, dass ich die Aufnahme noch einmal anhöre, ist, als ich diesen Text schreibe. Dabei fällt mir auf, dass Kalima noch etwas sagt.
Gott, hab Erbarmen.
Ich werde gefragt: Wie habt ihr diese Geschichten, wie habt ihr diese Frauen gefunden? Ich bin keine besondere Reporterin, ich habe keine Tricks im Ärmel. Ich bin nur eine Frau, mit Zeit zum Zuhören.
Sobald wir ganz alleine sind, haben die Frauen fast alle eine Geschichte zu erzählen. Über Gewalt, über Missbrauch, über Vergewaltigung. Die meisten fangen dabei an zu weinen. Es gibt keinen Grund für sie zu lügen. Wer seinen Chef anzeigt, kann sich davon keine Gewinne versprechen. Im Gegenteil: Wer das tut, verliert wie Kalima seinen Job, seine Existenz.
Kalima ist die einzige von den Frauen, mit denen wir in Spanien gesprochen haben, die ihren mutmaßlichen Vergewaltiger angezeigt hat. Die Einzige, bei der wir Dokumente haben. Eine Ärztin, die ihre Verletzungen dokumentiert hat.
Und trotzdem ist sie die Verliererin in der Geschichte. Während wir uns auf dem Krankenhausparkplatz anhören, wie sie bei der Untersuchung leidet, sagen ihr die Ärzte drinnen, dass es vermutlich zu wenig Beweise für eine Verurteilung von Abdelrahman gebe.
Als Reporterinnen stehen wir vor demselben Problem, wie die Frauen selbst: Wir brauchen Beweise. Sonst glaubt uns niemand. Und wir brauchen viele Frauen, denn das Zeugnis Weniger taugt in den Augen der Redakteure und Leser nicht.
Ich erinnere mich an einen Artikel in der ZEIT, den mein Kollege Raphael Thelen 2014 geschrieben hat. Darin geht es um Ausbeutung von Erntehelfern bei der Melonenernte in Spanien. In der Reportage kommt ein betroffener Mann zu Wort. Das reichte offenbar, damit der Leser glaubt, dass es auf den Melonenfarmen ein Problem gibt. Ich habe während unserer Recherche oft an diese Reportage gedacht, weil sie so ähnlich und doch so anders ist.
Weil wir über Frauen und sexualisierte Gewalt schreiben, müssen wir den damit untrennbar verbundenen Vorwurf der falschen Bezichtigung immer mitdenken. Damit der Leser uns diese Recherche abnimmt, müssen wir mit sehr vielen Erntehelferinnen sprechen.
Am Ende sind es mehr als 100 Frauen. 28 von ihnen geben an, dass sie körperlich sexuell belästigt oder vergewaltigt wurden. Die Gewalt, die ihnen angetan wurde, schildern sie in schwer erträglichen Details, teilweise auch vor der Kamera.
Und trotzdem bekomme ich die Frage gestellt: Seid ihr euch sicher, dass das keine Einzelfälle sind?
Wir fahren fast jeden Tag stundenlang durch die Felder, laufen oft kilometerweit Trampelpfade entlang, die im Nichts enden. Es gibt keinen anderen Weg, die Unterkünfte zu finden, denn die Farmen sind oft nicht ausgeschildert und wenn doch, liegen die Unterkünfte noch einmal ein Stück weit ins Feld hinein.
Hilfs- und Frauenorganisationen vor Ort können oder wollen uns nicht helfen. Termine werden immer wieder verschoben. In einer NGO für Migranten sagt uns ein Mitarbeiter, Frauen seien besser für die Erdbeerernte geeignet, weil sie „feinere Hände“ hätten. Von Beschwerden wegen sexueller Belästigung habe er noch nie gehört. Er sagt, Erntehelfer verdienten rund 50 Euro am Tag, also viel mehr als die Frauen auf ihren Lohnzetteln stehen haben, die sie uns zeigen. Als wir ihn nach Statistiken fragen, nach Belegen, warum er das denkt, sagt er: Er habe keine. Das sei so ein Gefühl.
Also müssen wir die Frauen direkt an ihrem Arbeitsplatz finden. Das größte Problem dabei: Wachhunde. Fast jede Farm hat einen und sobald wir die Landstraße verlassen, nehmen wir dicke Stöcke mit. Zweimal müssen wir uns ins Auto flüchten. Das zweitgrößte Problem: Landwirte, die misstrauisch werden, wenn sie uns im Auto vorbeifahren oder an ihrem Feld entlang laufen sehen.
Oft sind wir auch noch unterwegs, wenn es schon dunkel ist. Dann ruckelt unser Auto über die Buckelpisten zwischen den Erdbeeren, manchmal tauchen kleine Grüppchen von Frauen im Licht unserer Scheinwerfer auf. Sie schleppen Einkäufe von der Tankstelle in Plastiktüten nach Hause. Oder wir treffen auf am Straßenrand stehende Lieferwagen, in denen Männer sitzen und einfach warten.
Diese Felder sind eine rätselhafte, oft unheimliche Welt.
Vier Tage lang fahren wir rund um eine Kleinstadt namens Cartaya jede Straße, jede Gasse und jeden Feld- und Waldweg ab. Hier soll es eine Arbeiterunterkunft geben, die sich „Casa del Gato“ nennt – das Haus der Katze. Eine Frau, mit der wir sprechen, sagt, dass sie vom Chef dieser Farm vor fünf Jahren missbraucht wurde. Dass er sie als „Hure“ beschimpft habe. Noch heute habe sie Panikattacken, nehme Medikamente zur Beruhigung, sagt sie. Aber sie kann sich nicht mehr erinnern, wo die Farm liegt.
Am Ende stellt sich heraus „Casa del Gato“ ist keine offizielle Bezeichnung, sondern ein Spitzname, den die Marokkanerinnen der Farm gegeben haben. Alle kennen sie, aber niemand kann uns den Weg dorthin erklären. Erschöpft geben wir auf.
Einmal begegnet uns ein weißer Porsche Cayenne mitten im Niemandsland der Gewächshäuser. Es ist wie eine Fata Morgana.
Ein anderes Mal fahren wir fast eine Stunde lang durch die Nacht, ohne einem anderen Auto zu begegnen. Ich kriege plötzlich Angst, denke an die Geschichte mit der verschwundenen Arbeiterin, bin mir für wahnhafte zehn Sekunden sicher, dass sie gleich auftaucht, bleich und aufgedunsen am Straßenrand liegt.
Aber da ist nichts, nur weißes Plastik.
Am 26. April 2017 finden wir nach fast 20 Minuten Laufen, weitab von Häusern oder einer Straße, hinter einem Pinienwäldchen, ein ganzes Containerdorf. Schätzungsweise hundert Frauen, vor allem aus Bulgarien und Rumänien, leben zu viert in winzigen Zimmern. Drumherum ein Zaun. Eine Frau wäscht ihre Wäsche in einem Plastikbottich.
Erst versuchen wir es mit Spanisch, doch als eine der Frauen merkt, dass meine Kollegin Stefania aus Italien kommt, wechselt sie sofort ins Italienische. Ihr Chef schreie sie an, drohe ihnen, sie zurück nach Bulgarien zu schicken, wenn sie nicht härter arbeiteten. Als Stefania sie fragt, ob es auch andere Probleme gäbe, ob der Chef zudringlich wäre, schaut die Frau sie ein paar Sekunden stumm an. Dann sagt sie: Nein, aber ich kann hier nicht frei sprechen. Die anderen Frauen hören uns zu und melden mich dem Chef. Sie gibt uns ihre Telefonnummer.
In den meisten Farmen, die wir besuchen, gibt es nicht nur männliche Vorarbeiter und Chefs, die Druck auf die Frauen ausüben. Es gibt auch eine Hierarchie unter den Frauen. Eine oder mehrere von ihnen sind so eine Art Aufpasserin. Sie rufen den Chef an, wenn etwas Ungewöhnliches passiert. Deshalb sprechen die Frauen auch in kleineren Gruppen kaum schlecht über ihren Arbeitgeber.
Als wir eine Farm nahe der Kleinstadt Almonte besuchen, auf der fast 50 Marokkanerinnen leben, ruft eine der Arbeiterinnen sofort die Vorarbeiterin. Eine große, muskulöse und respekteinflößende Person. Anders als auf anderen Farmen werden wir nicht sofort weggeschickt. Die Vorarbeiterin gibt uns sogar ein Interview, in dem sie sagt, dass sie von sexueller Belästigung auf den Feldern gehört hat. Aber nicht auf ihrer Farm. Sie sagt: „Ich komme selbst aus Marokko, ich tue alles, dass es den Arbeiterinnen hier gut geht.“
Am nächsten Nachmittag jedoch bekommen wir einen Anruf: Eine der Frauen, die am Vortag mit uns gesprochen und sich über die Arbeitsbedingungen beschwert hat, darf nicht mehr arbeiten. Die Vorarbeiterin hat ihr außerdem das Handy weggenommen, damit sie uns nicht anrufen kann – deshalb ruft sie mit dem Handy einer Kollegin an. Als wir die Vorarbeiterin anrufen und fragen, ob das stimmt, streitet sie alles ab. Die Frau sei krank, deshalb arbeite sie nicht.
Auf manchen Farmen bekommen wir nur Sätze zu hören, die wie eingeübt klingen: „Todo bien, todo bien” wiederholen die Frauen immer wieder. „Alles gut, alles gut.“ Sonst schauen sie uns nur stumm an. Weil wir nicht wissen können, welche der Frauen die Aufpasserinnen sind, ist es schwierig, Vertrauen aufzubauen. Manchmal halten wir Blickkontakt mit einer Frau, die besonders still erscheint und drücken ihr in einem von den anderen unbeobachteten Moment einen Zettel mit unserer Telefonnummer in die Hand.
Am Ende haben wir vier volle Notizbücher mit Telefonnummern unzähliger Frauen und Notizen wie: Farm, hinter der Tankstelle links, geradeaus. Fatima I, Fatima II, die Frau mit dem pinken Hijab.
Einer der vielen Zettel mit unserer Telefonnummer ist in Kalimas Hand gelandet.
Am Morgen des 4. Mai 2017 flieht Kalima von der Farm. Wir sind mit ihr auf einem Feldweg verabredet, es ist noch dunkel und bis auf ein paar Vögel ganz still. Als wir sie durch das Gatter kommen sehen, dass das Haus umgrenzt, starte ich den Motor. Ich fahre schon an, während Kalima ihren Koffer ins Auto wuchtet, einsteigt, die Tür zuschlägt. Wir verriegeln die Autotüren von innen.
Wir fahren in die Stadt Moguer, wo Kalima gemeinsam mit ihrer Anwältin Anzeige gegen ihren Vorgesetzten Abdelrahman erstattet. Sie betritt das Gebäude in einem tiefblauen Gewand, dass ihren ganzen Körper umhüllt, ein traditionelles Kleid aus dem Atlasgebirge. Die Frauen dort, sagt man, seien besonders stark und stolz. An diesem Tag klingelt Kalimas Handy oft. Einmal, zweimal, dreimal, viermal. Sie sagt: „Abdelrahman“. Und lässt es klingeln.
Auf dem Weg von der Staatsanwaltschaft zur Beauftragten gegen Gewalt gegen Frauen in Huelva entsteht unser Interview auf dem Uni-Parkplatz. Innerhalb von 48 Stunden muss Kalima fünf wildfremden Menschen haarklein von ihrer Vergewaltigung erzählen. Den zwei Ärzten, dem Staatsanwalt, uns und einer Sozialarbeiterin, die ihre Einweisung in ein Frauenhaus veranlasst.
Die Behörde hat schon fast geschlossen. Als Kalima dort ankommt, wollen die Mitarbeiter sie schnell weiterverweisen. Die Sozialarbeiterin stellt viele Fragen, darunter auch, wie genau Kalima missbraucht wurde. Ich frage mich warum sie das wissen muss, warum das jetzt wichtig ist.
„Anal? Anal?“, fragt die Frau sehr laut, sodass es auch im Nebenzimmer noch zu hören ist. Kalima nickt stumm, nachdem es für sie übersetzt wurde. Dann bringt die Sozialarbeiterin Kalima nach unten, dort wartet ein Taxi, das sie ins Frauenhaus bringen soll. Kalima spricht kein Spanisch und versteht kaum, was um sie herum passiert. Sie weint jetzt heftig, ihr Gesichtsschleier färbt sich dunkel von den Tränen. Dann nimmt sie die Hand der Sozialarbeiterin und küsst sie zum Dank, steigt ins Taxi und ist weg.
An diesem Abend ist es in unserem Zimmer ganz still. Ich fühle mich erschlagen vom Tag, von Kalimas Geschichte. Am nächsten Tag reisen wir ab. Endlich müssen wir nicht mehr in Huelva sein.
Wir nehmen, genau wie die Erntehelferinnen, die Fähre von Tarifa in Spanien nach Marokko. Zum einen, weil es günstiger ist. Wir sind länger in Spanien geblieben, als geplant, mussten den Leihwagen verlängern, das alles hat ein Loch in unser Budget gerissen. Zum anderen, weil wir hoffen, so weniger aufzufallen.
Wir haben keine Genehmigung, um als Journalisten in Marokko zu arbeiten. Die marokkanische Regierung sagt zwar, dass man eine solche Genehmigung beantragen kann, aber unsere Kontakte vor Ort empfehlen uns, es gar nicht erst zu versuchen. Man bekäme die Autorisierung ohnehin nicht, oder erst Monate später, so heißt es.
Fielen wir bei der Einreise nach Marokko ohne Genehmigung auf, bekämen wir sofort Probleme.
Unsere Übersetzerin macht einen Termin mit jemandem aus, von dem wir glauben, dass er ein Gewerkschafter ist. An der Tür des Hauses hängt kein Schild, drinnen sitzt ein Mann und bewacht den Eingang. Wir werden in ein Hinterzimmer geführt. Der Mann hinter dem schweren Holzschreibtisch hört sich in Ruhe an, warum wir da sind. Dann will er unsere Pässe sehen.
Wir sind verunsichert, geben sie ihm. Er macht Kopien und ruft einen Kollegen an. Langsam wird uns klar, dass wir hier nicht mit einem Gewerkschafter sprechen. Der Kollege bringt uns zu einer Behörde in Biougra, dem Sitz der Regionalverwaltung. Dort werden wir durch viele Vorzimmer geführt und sitzen am Ende vor dem Gouverneur, einer Person, die in Deutschland etwa einem Landrat entspricht.
Er sagt, wir müssten uns an die Regierung in Rabat wenden – mehr als eine Tagesreise von Agadir entfernt. Sonst dürften wir nicht weiterarbeiten. Wir versprechen, dass wir das tun und gehen. Am nächsten Tag beschließen wir, nicht mehr mit der Übersetzerin zusammen zu arbeiten.
Stattdessen treffen wir uns mit einem Mann, den wir „den Professor“ nennen. Er lehrt an der Universität Agadir und hat uns schon viele Kontakte vermittelt. Gemeinsam schlendern wir durch die Innenstadt. Der Professor sagt: Ihr müsst jetzt still halten, bleibt ein paar Tage in Agadir, tut so, als würdet ihr Urlaub machen. Ich kümmere mich.
Wir setzen uns für zwei Tage in eine Strandbar und trinken Bier. Dann haben wir eine neue Übersetzerin.
Es ist Freitagnachmittag, in Ait Aimera, in der Region Souss-Massa, südlich des Atlas-Gebirges. Ait Aimera ist die Hochburg für Landwirtschaft in der Region. Wir laufen über den Markt, wollen mit Erntehelferinnen ins Gespräch kommen, die hier am Wochenende ihre Einkäufe erledigen. Lange Gespräche sind in der Öffentlichkeit nicht möglich, aber wir wollen Nummern mit den Frauen austauschen, sodass wir uns später noch einmal treffen können.
Das klappt zunächst ganz gut. Dann fällt uns auf, dass uns ein Polizeibeamter folgt. Er versucht nicht einmal, sich zu verbergen, sondern läuft uns ganz offen hinterher. Nach einer Weile winkt er unsere Übersetzerin heran, spricht mit ihr. Er habe sie gefragt, was wir hier täten, sagt sie uns. Wir interessierten uns für die Frauen, habe sie gesagt. Ein Projekt für die Universität. Er wolle nur sichergehen, dass uns nichts passiert, habe der Polizist gesagt. Es sei ein bisschen gefährlich in Ait Aimera.
Wir beschließen, im Auto zu warten, während unsere Übersetzerin weiter über den Markt läuft und mit Telefonnummern zurückkommt. Eine der Nummern gehört Latifah.
Wir treffen sie später auf der Landstraße wieder, nahe einer Tankstelle, zusammen mit einer Kollegin und ihrem Kind. Wir fahren ein Stück ins Feld, parken.
„Sie reden mit dir wie mit einem Tier“, sagt Latifah. Sie arbeitet für Kleinbauern und wechselt deshalb häufig die Farm. Chefs und Vorarbeiter wollten, dass sie mit ihnen schlafe, sagt Latifah.
Wir müssen aufpassen, dass wir nicht zu häufig in Ait Aimera zu sehen sind. Unser Auto ist zwar nur ein Kleinwagen, aber er wirkt wie ein Fremdkörper in den duars, ärmlichen Vierteln, in denen vor allem Erntehelfer arbeiten. Hier gibt es keine Autos, alle gehen zu Fuß, manche haben vielleicht ein Fahrrad.
Während wir dort unterwegs sind, bekommen wir einen Anruf von unserer alten Übersetzerin. Sie will wissen, wo wir sind. Ich lüge und sage, wir sind in Agadir, haben die Recherche abgebrochen. Sie will wissen, in welchem Hotel wir übernachten. Ich denke mir einen Namen aus.
Fast am Ende unserer Reise beschließen wir, in den Ort zu fahren, aus dem Kalima stammt. Sidi Boumoussa, am Fuß des Atlas. Hier sind die Häuser noch karger, die Menschen noch ärmer gekleidet, als überall wo wir bisher waren. Als wir durch die Straßen laufen, lädt uns eine Frau in ihr Haus ein. Wir trinken Raibi, eine Art sehr flüssigen Joghurt und treffen auf die Schwester der Frau, die vor einigen Jahren als Erntehelferin in Spanien gearbeitet hat. Wie es dort gewesen sei, fragen wir. Ob sie es anderen Frauen empfehlen würde?
Nein, niemals, sagt die Frau. Warum, mag sie nicht erklären.
Als wir aus Sidi Boumoussa zurück nach Agadir fahren, sehen wir eine Traube von Arbeiterinnen am Straßenrand. Wir halten an, steigen aus. Sofort kommt eine Gruppe Männer auf uns zu und fragt, was wir machen. Wir hasten ins Auto, ich trete das Gaspedal durch, unser Auto schießt auf die Straße, die Männer in einem weißen Caddy hinterher.
Ich überhole LKWs, versuche Abstand zwischen den Caddy und uns bringen. Es ist das erste Mal, dass ich Angst bekomme. Wir reden nicht, unsere Übersetzerin rutscht auf der Rückbank nach unten, damit man sie nicht sehen kann. Sie ist Studentin, lebt in Agadir. Von uns dreien nimmt sie hier das größte Risiko auf sich. „Ich mache mir Sorgen, dass mich jemand bei der Universität anschwärzt, dass ich euch geholfen habe“, sagt sie am letzten Tag unserer Recherche. Sie hat Angst, ihren Studienplatz zu verlieren, deshalb wird ihr Name unter unseren Artikeln nicht erwähnt.
Es dauert fast 40 Minuten, bis wir das Gefühl haben, die Männer abgehängt zu haben. Sicher sind wir uns nicht, deshalb setzen wir unsere Übersetzerin etwas entfernt von ihrem Haus ab, fahren über Umwege zu unserem Hotel.
Zwei Tage später sitzen wir wieder in einem Straßencafé, an einer Tankstelle zwischen der Stadt Biougra und Ait Aimera. Hier sind wir in den Wochen zuvor schon häufiger gewesen, um uns vor den Interviews zu besprechen. Wir trinken Saft, wollen uns später mit einer Frau treffen, mit der wir zuvor telefoniert haben.
Plötzlich taucht unsere alte Übersetzerin auf und geht auf unseren Tisch zu. Sie wohnt nicht hier, ich verstehe nicht, wie sie uns finden konnte. Sie setzt sich zu uns an den Tisch, wirkt sehr angespannt. Ich glaube, dass sie Stefania und mir ansieht, wie erschrocken wir sind. Sie fragt auf Französisch: „Wie kommt ihr mit der Arbeit voran? Habt ihr noch mehr Frauen getroffen?“
„Nein“, sagen wir schnell. Wir würden die Geschichte nicht weiter verfolgen. Sie spricht unsere neue Übersetzerin auf Arabisch an. „Wo wart ihr? Mit wem habt ihr gesprochen? Wo studierst du?“
Wir sagen nichts mehr, trinken unseren Saft. Sie wirkt jetzt wütend, steht dann auf und geht. Verschwindet irgendwo zwischen den Häusern.
Ich glaube, dass die Regionalbehörde Druck auf sie ausgeübt hat. Damit sie herausfindet, wo wir sind und was wir machen. Beweisen kann ich das nicht, aber ich habe ein ungutes Gefühl.
Mit der Frau treffen wir uns nicht mehr, wir haben Bedenken, dass man uns beobachtet. Dass wir zu lange in der Region waren, die Leute über uns reden. Wir fahren zurück nach Agadir und versuchen, soviel Material wie möglich in die Cloud zu laden. Die Festplatte mit den Interviews der Frauen trage ich in einer Tasche direkt am Körper. Wir haben Angst, am Flughafen in eine Kontrolle zu kommen.
„NGO-Mitarbeiter“ haben wir auf unserer Einreisekarte angegeben.
Zweck der Reise: Urlaub.
An der Passkontrolle im Flughafen in Marrakesch prüft der Polizist irgendwas in seinem Computer. Dann schaut er mir direkt in die Augen: „Journalistin, richtig?“, fragt er.
„Ja“, antworte ich nach kurzem Zögern, und frage mich, woher er das weiß.
„Für wen arbeiten Sie?“, fragt er.
„Deutsche Medien“, sage ich. Er lässt mich noch eine Weile warten, dann kann ich gehen.
Nur ein kleiner Teil von dem, was wir gefilmt haben, wird am Ende verwendet. Wir schreiben und schneiden nur wenige Einzelfälle.
Wir haben aber auch zahlreiche Geschichten von Frauen, die sehr bewegend sind, die am Ende aber nicht veröffentlicht werden. Wir haben uns auf sexualisierte Gewalt beschränkt, auf möglichst aktuelle Fälle. Getroffen haben wir aber auch viele Frauen, deren Erlebnisse länger zurückliegen, die sich vielleicht nicht mehr genau oder nur lückenhaft erinnern. Frauen, denen körperliche oder psychische Gewalt angetan wurde, aber keine sexualisierte.
All die Bilder und Stimmen dieser anderen Frauen liegen weiter auf meiner Festplatte. Ich weiß noch nicht, was ich damit machen kann, außer, sie mir immer wieder anzusehen.
Pascale Müller ist Reporterin für Politik und sexualisierte Gewalt. Kontakt: Pascale.mueller@buzzfeed.com
Contact Pascale Mueller at pascale.mueller@buzzfeed.com.
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