Ein Europakandidat der Piratenpartei soll eine Frau sexuell belästigt haben – trotzdem darf er weiter auf Platz zwei der Wahlliste stehen

Einem Spitzenpolitiker der Piratenpartei, Gilles Bordelais, wird sexuelle Belästigung vorgeworfen. Für die Ende Mai anstehende Europawahl steht Bordelais auf Listenplatz zwei. Anfang Februar zog er sich nach Angaben der Partei aus dem Wahlkampf zurück, auf ihrer Wahlliste steht er aber noch immer.

Bordelais hatte vor seiner Kandidatur als Mitarbeiter bei Julia Reda gearbeitet, der einzigen Europaabgeordneten der Piratenpartei, die der Fraktion der Grünen im EU-Parlament angehört. Die ersten Beschwerden gegen ihn habe Reda bereits im Juni 2018 erhalten. „Ich habe daraufhin begonnen, Mitarbeiter*innen in seinem Arbeitsumfeld zu befragen, diese Gespräche haben die Vorwürfe erhärtet”, schreibt Reda in einer Email an BuzzFeed News. Mitte Juli 2018 habe sie daher bei der Parlamentsverwaltung die Kündigung von Gilles Bordelais beantragt.

Auch der beratende Ausschuss des Europaparlaments zu Belästigung am Arbeitsplatz hatte im Sommer 2018 eine Untersuchung gegen Bordelais begonnen. BuzzFeed News liegt ein Dokument vor, dass diese Untersuchung bestätigt.

Dort heißt es an die betroffene Frau gerichtet: „Nach gründlicher und sorgfältiger Prüfung Ihrer Beschwerde ist das Advisory Committee der Meinung, dass Aspekte des Verhaltens von Gilles Bordelais Ihnen gegenüber sexuelle Belästigung darstellt.“


Marcus Golejewski / picture alliance / Geisler-Fotop

Gilles Bordelais beim Bundesparteitag der Piratenpartei 2014.

BuzzFeed News hat das Europaparlament um eine Bestätigung des Falles gebeten, dieses verwies jedoch darauf, dass eine Kommentierung nicht möglich sei, „zum Schutz von Opfern und Beschuldigten“.

Bordelais bestätigt auf Anfrage von BuzzFeed News, dass seit Herbst 2018 eine Untersuchung bezüglich Vorwürfe sexueller Belästigung gegen ihn geführt wird, verweist aber darauf, dass die Untersuchung noch nicht abgeschlossen sei. „Ich bitte um Verständnis, dass alle Parteien sich zu Verschwiegenheit verpflichtet haben, solange das Verfahren noch läuft. Jedoch kann ich Ihnen versichern, dass ich es begrüßt hätte, wenn eine Entscheidung bereits gefällt geworden wäre“, so Bordelais in einer Mail an BuzzFeed News. Sein Rücktritt aus dem Wahlkampf erfolge aus persönlichen Gründen.

Der Spitzenkandidat der Piraten zur Europawahl Patrick Breyer veröffentlichte noch am Freitagabend eine Erklärung zu Bordelais. Darin schreibt er, Julia Reda habe Bordelais gekündigt, weil mehrere Beschwerden wegen sexueller Belästigung gegen ihn eingegangen seien. Dies sei allerdings erst nach der Aufstellungsversammlung für die Europawahl geschehen.


Oliver Franke

Patrick Breyer, Spitzenkandidat der Piratenpartei für die Europawahl.

Patrick Breyer erklärte am Abend gegenüber BuzzFeed News, er habe bereits zum Bundesparteitag im November 2018 einen Antrag in der Causa Gilles Bordelais entworfen. Ziel sei es gewesen, eine Information aller Mitglieder zu beschließen und den Bundesvorstand per Basisvotum zu beauftragen, Bordelais’ Nichtzulassung zu betreiben. Diesen Antrag habe der Bundesvorstand allerdings nicht zur Abstimmung gestellt und erklärt, er wolle sich selbst um die Angelegenheit kümmern.

Breyer verwies in seiner heutigen Erklärung zudem darauf, dass die Kandidatur von Bordelais wohl ohnehin keine Auswirkungen haben werde. „Nach aktuellen Meinungsumfragen kann die Piratenpartei Deutschland bei der Europawahl 2019 mit einem Ergebnis von rund 1,0% und damit einem Sitz rechnen“, so Breyer.

Wenige Tage vor dem Bundesparteitag im November 2018 hatte der schwedische Piratenpolitiker Mattias Bjärnemalm auf seinem Blog beschrieben, wie „einer der Top-Kandidaten“ der Piratenpartei unter den Augen vieler Zeugen mehrere Frauen belästigt haben soll. Es soll sich bei dem Mann um Bordelais handeln. In seinem Eintrag „A friend called Niles“ berichtet er von zwei formellen Beschwerden über seinen damaligen Freund und das „kollektive Versagen” seiner selbst und seiner Kollegen. Es scheine „allgemeine Resignation” darüber zu herrschen, dass der Mann auf der Liste zur Europawahl stehe. Julia Reda schreibt BuzzFeed News, sie könne die Darstellung der Geschehnisse von Bjärnemalm bestätigen.


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Der Bundesvorstand teilte damals mit, er sei über „Anschuldigungen gegen einen Listenplatzbewerber zur Europawahl“ informiert worden. „Wir nehmen diese Anschuldigungen sehr ernst, werden uns zeitnah damit auseinandersetzen und gegebenenfalls angemessene Konsequenzen daraus ziehen“, heißt es in einer damals veröffentlichten Pressemitteilung auf der Webseite der Partei.

Rund drei Monate später, am 6. Februar 2019, erklärte der Bundesvorstand, Bordelais ziehe seine Kandidatur aus „persönlichen Gründen“ zurück. Der Vorstand bedanke sich für sein starkes Engagement im Wahlkampf, heißt es in einem kurzen Statement auf der Webseite.

”Ich bin nicht überzeugt, dass eine Streichung unmöglich war. Ich glaube, dass Gilles Bordelais seine Streichung vom Wahlvorschlag gezielt verhindert hat und der Bundesvorstand der Piratenpartei sein Verhalten aus mir nicht erklärlichen Gründen deckt“, kritisierte Julia Reda am Freitagabend das Vorgehen des Bundesvorstands in der Angelegenheit.

Am Freitag wurde der Verbleib von Bordelais auf der Kandidatenliste auch im Bundeswahlausschuss diskutiert. Dort müssen Parteien und deren Kandidaten formell zur Europawahl zugelassen werden. Zunächst war von Vertretern der Partei versucht worden, mit Hinweis auf ein fehlendes Dokument die Kandidatur für ungültig erklären zu lassen. Patrick Breyer schreibt dazu: „Zeitgleich zur Erklärung gegenüber der Piratenpartei hat Gilles Bordelais selbsttätig bei dem Bundeswahlleiter eine fehlende Unterlage für seine Zulassung zur Wahl nachgereicht.“

In der Sitzung des Wahlausschusses am Freitag führte die Vertrauensperson der Piratenpartei, Gabriele Biwanke-Wenzel, daraufhin noch einmal „gewichtige persönliche Gründe“ für die Streichung an – wurde aber nicht konkreter.

Der Bundeswahlausschuss entschied im Anschluss, dass Bordelais nicht von der Liste zu streichen sei. Für eine Streichung lag „kein Grund vor, da alle erforderlichen Unterlagen vorgelegt wurden”, schreibt ein Pressesprecher des Bundeswahlleiters auf Anfrage von BuzzFeed News. Maßgeblich für die Zulassung von Kandidatinnen und Kandidaten seien ausschließlich formale Gründe. Die Aufstellung der Listen obliege den Parteien, die Wahlvorschläge einreichen.

Auf Anfrage von BuzzFeed News antwortete ein Pressesprecher der Piratenpartei am Freitag: „Natürlich hat uns im Bundesvorstand das Thema heute auch beschäftigt.“ Er verwies weiter auf ein Statement auf der Webseite der Partei. Dort heißt es: „Bei der Tagung des Bundeswahlausschusses wurde heute die Liste der Piratenpartei ohne die von uns geforderte Veränderung zugelassen. Die von Gilles Bordelais und dem Bundesvorstand der Piratenpartei durch die Vertrauenspersonen vorgebrachte Bitte zur Streichung des zweiten Listenkandidaten wurde leider abgelehnt.“

Wenige Stunden später schreibt Patrick Breyer auf seiner Webseite: „Leider hat es sich als unmöglich erwiesen, ihn von unserer Liste zur Europawahl streichen zu lassen. Das Wahlrecht sieht einen Rücktritt von Kandidaten nicht vor. Für die Aufstellung einer neuen Liste fehlte uns im Zeitraum Februar 2019 bis Fristablauf am 4. März die Zeit. Ich bedauere dies außerordentlich. Trotz der geringen Chancen für eine Wahl von Gilles Bordelais war es uns wichtig, seine Streichung von der Europaliste zu erwirken.“


Tobias M. Eckrich; CC BY 2.0 / Via creativecommons.org

Europaabgeordnete der Piratenpartei, Julia Reda.

Die Europaabgeordnete Julia Reda zeigt sich vom Vorgehen des Bundesvorstand enttäuscht: „Ich bin sehr schockiert über die Darstellung der Situation durch den Bundesvorstand. Bis heute war ich davon ausgegangen, dass er alles unternehmen würde, um die Wahlzulassung von Herrn Bordelais zu verhindern, und unverzüglich ein Parteiausschlussverfahren beantragen würde. Stattdessen hat die Partei die konkreten Vorwürfe bei der heutigen Anhörung des Wahlausschusses verschwiegen und nimmt Gilles Bordelais in seiner öffentlichen Stellungnahme in Schutz.“

Die Piratenpartei hätte ihrerseits die Möglichkeit gehabt, Gilles Bordelais von der Liste zu streichen. Dafür hätte sie eine neue, sogenannte Aufstellungsversammlung abhalten müssen – und noch einmal notwendige Unterschriften für die Zulassung der Liste zur Europawahl sammeln müssen. Dies wäre aber „ausgesprochen schwierig geworden“, sagte die Vertrauensperson, Biwanke-Wenzel, in einem Statement vor dem Bundeswahlausschuss am Freitag.

Nach der Veranstaltung von BuzzFeed News zu dem Vorgang befragt, zeigte sich Vertrauensperson Biwanke-Wenzel über die Entscheidung des Bundeswahlausschusses frustriert, allerdings sah sie die Verantwortung nicht bei ihrer Partei, sondern beim Bundeswahlleiter: „Der Ausschuss scheute eine Streichung, weil er damit einen Präzedenzfall geschaffen hätte.“

In einem anderen Fall waren die Piraten diesen Schritt gegangen. Im Juni 2017 hatte sich die Piratenpartei Brandenburg dazu entschlossen, mit ihrer sechs Monate zuvor gewählten Liste nicht an der Bundestagswahl teilzunehmen. Grund war eine „über Twitter verbreitete, untolerierbare Äußerung” eines Listenkandidaten.

Die Journalistin und Aktivistin Sara Hassan hat selbst im Europaparlament gearbeitet und das feministische Netzwerk „Period.Brussels“ mitbegründet. Am Freitag kommentierte sie die Aufstellung von Bordelais auf Twitter und forderte, dass die Partei Verantwortung übernimmt. BuzzFeed News sagte sie in einem Telefonat am Freitagnachmittag: „Der Fall ist atypisch, weil er verfolgt wurde. Er ist aber typisch für Umfelder, in denen starke Hierarchien, Abhängigkeitsverhältnisse und eine Schweigekultur herrschen.”

ihr freut euch über die ganzen neuen piraten, die für euch und gegen #uploadfilter laufen – und liefert ihnen einen typen, der wegen sexueller Belästigung für schuldig befunden wurde? Get your shit together, verhindert das, das schuldet ihr uns #metoo https://t.co/nMlV7HMs3J

Die Piratenpartei musste sich schon häufiger mit Sexismus-Vorwürfen auseinandersetzen. Bereits 2012 veröffentlichten die „Jungen Piraten“, die Jugendorganisation der Partei, einen offenen Brief, in dem sie unter anderem schrieben: „Immer wie­der fal­len Mit­glie­der der Par­tei durch ras­sis­ti­sche, sexis­ti­sche, aber auch ander­wei­tig dis­kri­mi­nie­rende Aus­sa­gen oder Ver­hal­tens­wei­sen auf.“ Der Pressesprecher der Partei entgegnete damals auf die Vorwürfe, dass es in jeder Partei „zehn Prozent Idioten“ gäbe.

Ein Jahr später berichtete auch die damalige Spiegel-Online-Journalistin Annett Meiritz über andauernde Frauenfeindlichkeit von Parteimitgliedern, der sie während ihrer Berichterstattung ausgesetzt gewesen sei. Auf den Artikel folgte ein Bericht der Journalistin Laura Himmelreich im Stern, in dem diese dem FDP-Politiker Rainer Brüderle sexuelle Belästigung vorwarf. Der Artikel stieß gemeinsam mit dem Hashtag #aufschrei eine bundesweite Debatte über Sexismus und sexuelle Belästigung an.


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Pascale Müller ist Reporterin für Politik und sexualisierte Gewalt. Kontakt: Pascale.mueller@buzzfeed.com

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Post Author: martin

Martin is an enthusiastic programmer, a webdeveloper and a young entrepreneur. He is intereted into computers for a long time. In the age of 10 he has programmed his first website and since then he has been working on web technologies until now. He is the Founder and Editor-in-Chief of BriefNews.eu and PCHealthBoost.info Online Magazines. His colleagues appreciate him as a passionate workhorse, a fan of new technologies, an eternal optimist and a dreamer, but especially the soul of the team for whom he can do anything in the world.

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