Kontrollen der Bundespolizei in Zügen und auf Bahnhöfen waren seit 2006 rechtswidrig. Das hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in einem heute veröffentlichten Urteil entschieden.
Die Richter erklärten die Kontrollpraxis der sogenannten Schleierfahndung für unvereinbar mit dem Europarecht. (Als Schleierfahndung werden Personenkontrollen bezeichnet, die ohne Verdacht und ohne Anlass durchgeführt werden. In Deutschland geschieht das derzeit im grenznahen Raum, das heißt bis zu 30 Kilometer vor den Landesgrenzen.)
„Damit ist klar: Millionen von Kontrollen fanden ohne Rechtsgrundlage statt“, erklärte Rechtsanwalt Sven Adam gegenüber BuzzFeed News.
Geklagt hatte ein Deutscher mit dunkler Hautfarbe. Er wurde von Sven Adam vertreten. Der Mann war im November 2013 in der ersten Klasse im ICE von Berlin nach Freiburg unterwegs. Dabei wurde er von drei Bundespolizeibeamten kontrolliert, andere Passagiere jedoch nicht.
Die Bundespolizei hatte argumentiert, der Mann habe in den Sitz versunken und gegen die Fahrtrichtung gesessen, so dass ihn die Beamten erst hätten sehen können, als sie auf gleicher Höhe waren. Man habe sich spontan entschieden, ihn zu kontrollieren.
Dem erwiderte der Verwaltungsgerichtshof in der Urteilsbegründung: „Wie der Fall zeigt, kann eine Reaktion wie die des Klägers zudem bloßer Ausdruck des Unwillens über eine Kontrolle sein und muss nicht auf unerlaubte Einreise hindeuten.“
Der Europäische Gerichtshof hatte sich bereits zuvor mit verdachtsunabhängigen Kontrollen durch Polizeibeamte beschäftigt. Diese sind demnach nicht grundsätzlich unzulässig, jedoch bedürfe es eines klaren Rechtsrahmens, der folgendes regelt:
- Häufigkeit der Kontrollen (die darf im Vergleich zu sonstigen polizeilichen Maßnahmen nur begrenzt sein)
- Selektivität der Kontrollen (die Kontrollen dürfen keine bestimmte Personengruppe übermäßig oft treffen)
- öffentlich einsehbare Rechtsvorschriften (die Grundlagen, nach denen die Kontrollen durchgeführt werden, müssen für jedermann nachvollziehbar sein)
Dieser Rechtsrahmen soll gewährleisten, dass „Identitätskontrollen nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben“, heißt es in der Urteilsbegründung. In der EU soll der ungehinderte und freie Übertritt der Grenzen jedermann und jederzeit möglich sein – einer der Kerngedanken der europäischen Einigung. Grenzkontrollen sollen nicht einfach in das Gewand von Polizeikontrollen verkleidet werden.
In Deutschland aber sei genau das der Fall – der Gerichtshof sah „mehrere Indizien, die darauf hindeuten“, dass die Schleierfahndung im grenznahen Raum Grenzkontrollen gleichkäme. Die Mannheimer Richter kommen zu einem für das Bundesinnenministerium unangenehm deutlichen Schluss:
Dabei ist es nicht so, dass für Polizeibeamte gar kein Rechtsrahmen existiert. Der EuGH hatte klargestellt, dass das nicht unbedingt ein neues Gesetz sein müsse. Man könne das auf Verwaltungsebene lösen, zum Beispiel durch Erlasse oder Dienstvorschriften.
Die Anwälte der Bundespolizei hatten in Mannheim argumentiert, genau das sei gegeben: dank einer Verwaltungsvorschrift mit dem Namen „Bras 120“. Die aber wurde von der Bundespolizei als “Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch” eingestuft. Sie ist also nicht öffentlich und kann damit nicht als Rechtsrahmen gelten – eine Tatsache, die die Richter ausdrücklich rügten:
Damit war die Entscheidung, den Mann – und nur ihn – zu kontrollieren, rechtswidrig. Die Folge:
Rechtsanwalt Sven Adam ist kein Unbekannter, er gilt in Racial-Profiling-Verfahren als erfahren. Er konnte bereits nachweisen, dass bei der Bundespolizei im Vorfeld von Verfahren Aussagen abgesprochen werden. Am Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz konnte er ein Grundsatzurteil erreichen.
Damals sei wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Angelegenheit sogar eine Revision am Bundesverwaltungsgericht zugelassen worden. Doch die Kanzlei „Redeker Sellner Dahs“, die auch damals die Bundespolizei und damit das Bundesinnenministerium und die Bundesrepublik Deutschland vertrat, verzichtete bislang darauf. „Die wollen das natürlich nicht höchstinstanzlich entscheiden lassen, weil sie so immer sagen können: Ja, das ist ja nur ein Oberverwaltungsgericht, dass das jetzt entschieden hat. Das heißt nichts“, so Adam.
Dass es Racial Profiling bei der Polizei geben soll, wird von Polizeidienststellen und Innenbehörden stets bestritt: Das sei verboten, und darum gäbe es das auch nicht, so die wiederkehrende Argumentation.
Mit dem Urteil wurde die angewandte Praxis der Bundespolizei für die Jahre 2006 bis 2013 als rechtswidrig eingestuft. An den zugrundeliegenden Rechtsvorschriften, vor allem am Bundespolizeigesetz, hat sich seitdem allerdings nichts zentrales geändert, so dass das Urteil auch Signalwirkung für die Zeit danach hat.
BuzzFeed News hat sowohl die Bundespolizeidirektion als auch die Kanzlei „Redeker Sellner Dahs“ und die „Deutsche Polizeigewerkschaft“ um eine Stellungnahme gebeten. Die Antworten werden wir gegebenenfalls hier nachtragen.
Marcus Engert ist Political Editor von BuzzFeed News / BuzzFeed Deutschland und lebt in Leipzig und Berlin. Sicherer/Vertraulicher/Verschlüsselter Kontakt: per Mail mit PGP-Key http://bit.ly/2uy3ai6 oder über die Threema-ID F8H994R7
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